Industrie 4.0 in der Extrusion – Was bedeutet es und was bringt es wirklich?

Der Begriff Industrie 4.0 oder Smart Factory ist in aller Munde. Aber was versteckt sich hinter diesem Begriff und was bedeutet es für die Branche der Kunststoffverarbeitung? Welche Chancen und welche Möglichkeiten entstehen daraus und welche Risiken birgt dieser „Trend“?

Die industrielle Revolution beginnt mit dem Einsatz von hand- oder wasserangetriebenen Maschinen (Industrie 1.0) und entwickelt sich über die elektrisch angetriebene (Fließband-) Fertigung (Industrie 2.0) hin zur industriellen Automatisierung (Industrie 3.0). Unter dem Begriff „Industrie 4.0“ (oder im nicht-deutschen Sprachraum auch oft: Smart Factory) wird das Zeitalter der industriellen Digitalisierung, Vernetzung und Informatisierung verstanden.

Der Entwicklungspfad in Richtung Industrie 4.0 wird dabei häufig in Phasen eingeteilt. Prof. Schuh der RWTH Aachen hat dazu einmal die Unterteilung in die Phasen

1. Sichtbarkeit,

2. Transparenz,

3. Vorhersagbarkeit und

4. Selbstanpassung

vorgenommen, die aus meiner Sicht für die Kunststoffverarbeitung sehr gut angewandt werden können.

Industrie 4.0 – für Extrusionsbetriebe sinnvoll?

Auch wenn der Begriff Industrie 4.0 für die Branche der Extrusion nicht klar definiert ist, verstehen wir (SHS) unter diesem Themengebiet insbesondere die Umsetzung/Erreichung dieser Teilziele für die Extrusion (insbesondere im Bereich der Produktion)

  • Realisierung einer robusten, qualitativ hochwertigen Produktion
  • Reduktion/Vermeidung von Ausschussproduktion
  • Sicherstellung von Prozessen mit hoher Produktivität und Produktqualität
  • Schnelles Anfahren, schnelle Materialwechsel
  • Unterstützung der Maschinenbediener / Entlastung der Mitarbeiter

Erreichbar werden diese Ziele durch die Entwicklung und den Einsatz von sogenannten virtuellen Assistenzsystemen.

Virtuelle Assistenten – das Abstandsradar für die Extrusionslinie

Ähnlich einem Abstandsradar in einem PKW unterstützt ein virtueller Produktionsassistent den Maschinenbediener bei seiner Arbeit, indem er ihm klar definierte Tätigkeiten abnimmt.

Ein Abstandsradar im PKW ermittelt auf der Basis von Sensoren den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug und regelt in Abhängigkeit der aktuellen Fahrgeschwindigkeit und ggf. in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen (z.B. Wetter, Sichtweite) die Geschwindigkeit des Fahrzeuges. Die Geschwindigkeit des Fahrzeuges wird dabei geregelt indem verschiedene Stellgrößen (Einspritzmenge, Drosselklappe, Bremskraft, Getriebstufe) automatisch vom System angepasst werden.

Ein virtueller Produktionsassistent regelt – ebenfalls in Abhängigkeit unterschiedlicher Sensordaten – bestimmte Stellgrößen der Anlage, um ebenfalls ein voreingestelltes Ziel zu erreichen. So ist es beispielsweise denkbar, dass in einer Extrusionslinie die Abkühlsituation (Kaliber) eines Fensterprofils in Abhängigkeit einer durch Sensorik erfassten Verformung automatisiert angepasst wird.

Dazu ist es notwendig, dass gewisse Informationen aus dem Prozess so vorliegen, dass computergestützte Systeme (ähnlich dem Steuergerät im PKW) in der Lage sind diese Informationen zu verarbeiten – die Informationen müssen somit digital vorliegen.

Gleichzeitig ist es notwendig, dass der virtuelle Assistent die eingehenden digitalen Informationen „registriert“ und so viel Prozessverständnis besitzt, dass er aus den eingehenden Informationen (was zum Teil sehr viele werden können) sinnvolle Schlussfolgerungen ableiten kann. Das System muss dabei in die Lage versetzt werden, bestimmte Ereignisse/Probleme in der Produktion klar zu klassifizieren und eine sinnvolle Strategie zu dessen Vermeidung herzuleiten. Kann eine solche Vermeidungsstrategie definiert werden, so muss der Assistent letztlich noch in der Lage sein, aktorisch in den Prozess einzugreifen.

Das dargestellte Beispiel durchläuft somit sämtliche der vier Entwicklungsstufen (siehe Abbildung) vom „Sehen“ über das „Verstehen“ und „Vorhersagen“ bis hin zur „Selbstoptimierung“ und fällt damit in die Kategorie „Industrie 4.0“.

Industrie 4.0 = Regelungstechnik? Das gibt es doch schon seit Jahren!

Bei derartigen Bespielszenarien folgt häufig die zutreffende Kritik, dass derartige Regelungen doch auch schon vor der Jahrtausendwende technisch möglich waren (was durchaus korrekt ist). Im Rahmen von Industrie 4.0 Szenarien, steht jedoch nicht die Entwicklung einzelner Regelkreise im Fokus, sondern die Entwicklung von komplexen und universellen Assistenten, die in der Lage sind:

  • Die Situation des Prozesses eigenständig zu erfassen,
  • selbstständig zu erkennen ob eine Prozessoptimierung notwendig ist
  • selbstständig Optimierungsmöglichkeiten zu erarbeiten und
  • diese selbstständig in die Praxis umzusetzen.

Dabei soll ein derartiges System

  • Umgebungsbedingungen erkennen,
  • Zusammenhänge zwischen Sensoren und anderen Regelungen selbstständig herstellen und
  • aus eigenen Fehlern lernen können, so dass es sich
  • an neue Situationen anpassen kann.

In anbetracht dieser Vision, wird schnell deutlich, dass „Industrie 4.0 in der Kunststoffverarbeitung“ noch etwas mehr sein kann, als ein BDE/MDE, ein Energiemonitoring-System oder eine Regelung.

 

Stand Heute: Entwicklungsstufe 1 in der Extrusion

Die meisten kunststoffverarbeitenden Betriebe befinden sich heute im Bereich der ersten Entwicklungsstufe (oder ganz am Anfang davon). Die erste Phase (Visibility) beschreibt dabei die digitale Erfassung dessen, was in der industriellen Produktion (Extrusion) geschieht.

Dieser Teilabschnitt der Weiterentwicklung eines Produktionsunternehmens in Richtung Industrie 4.0 wird häufig auch als notwendige Voraussetzung bezeichnet, die allen Folgestufen vorhergehen sollte. Gemeint ist damit der Aufbau eines digitalen Modells (oft digitaler Schatten) der Produktion. Alle relevanten Informationen der Produktionsumgebung müssen – damit eine computergestützte Weiterverarbeitung möglich ist – digital erfasst werden und zentral und von unterschiedlichen Systemen zugänglich abgelegt werden (z.B. in Datenbanken). Dieser Sachverhalt muss sich aber nicht auf die gesamte Produktion oder alle Maschinen beziehen, sondern kann durchaus auch zunächst als „Insellösung“ umgesetzt werden.

In Extrusionsbetrieben sind beispielsweise diese Informationen wichtig und sollten nach Möglichkeit digital vorliegen:

  • Prozessparameter der Extrusionsanlagen (Durchsatz, Material, Druck, Drehzahl, etc.)
  • Prozessparameter der Extrusions-Peripherie (Kühlstrecken, Abzüge, Wickler, Gebläse, Kaliber, etc.)
  • Prozessparameter der zentralen Einrichtungen (Druckluft, Kälte)
  • Auftragsplanung und Produktionsplanung
  • Personalplanung
  • Materialverbrauch
  • Energieverbrauch

„Industrie 4.0? Ja machen wir auch schon!“

Heutzutage sind oft einzelne dieser Informationen bereits verfügbar, da im Betrieb MDE oder BDE Systeme im Einsatz sind oder elektrische Energieverbräuche durch Energiemonitoring-Lösungen erfasst werden. Werden solche Systeme eingesetzt ist häufig der Satz „Industrie 4.0? Ja machen wir auch schon!“ zu hören, auch wenn dies – wie zuvor dargelegt wurde – nicht ganz zutreffend ist. Nichtsdestotrotz ist dies der erste und notwendige Schritt, wenn eine Weiterentwicklung eines Betriebes in Richtung Industrie 4.0 erfolgen soll.

Sofern Sie sich für „Industrie 4.0 in der Kunststoffverarbeitung“ interessieren, besuchen Sie auch unseren kostenlosen Downloadbereich. Dort können Sie sich eine hilfreiches Dokument zum Digitalisierungs-Check herunterladen sowie konkrete Fallbeispiele zu umgesetzten Projekten (wachsend).

 

Anmerkung: In meinen Ausführungen beziehe ich mich auf „Industrie 4.0“ in der Produktionsumgebung. Selbstverständlich lässt sich Industrie 4.0 auch auf die Bereiche des Geschäftsmodells, des Vertriebs, Marketings und viele andere Bereiche beziehen, dies liegt hier jedoch nicht im Fokus der Betrachtung.

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